Nidastore

Nidastore heißt auf Deutsch »Habichtnest« (nido dell’astore). Die Gegend ist seit vorgeschichtlicher Zeit besiedelt, aber das Castello selbst stammt wie die anderen Arcevieser Castelli aus dem frühen Mittelalter. Im Sommer kann man hier auf der Mini-Piazza wunderbar zum Essen sitzen. In der Kirche Santa Anna befinden sich Fresken von Ercole Ramazzani und in San Sebastiano eine Kreuzigung aus dem 16. Jahrhundert.

In Nidastore erzählt man sich seit Generationen eine Geschichte über das berüchtigte ius primae noctis, also das Recht des adeligen Gerichtsherren, bei der Heirat von zwei seiner Untertanen die erste Nacht mit der Braut zu verbringen (oder ersatzweise Geld, den sogenannten Stechgroschen zu verlangen). Ob es ein solches Recht je wirklich gab, ist unter Historikern umstritten. Aber das angebliche Herrenrecht auf Sex mit der Braut hat, so viel steht fest, seit der frühen Neuzeit die Fantasie vieler Menschen stark angeregt.

In Nidastore geht die Geschichte so: Ein gewisser Conte Raniero di Taddeo, Enkel des Bischofs von Fossombrone, habe im 16. Jahrhundert begonnen, als Gerichtsherr von Nidastore auf seinem Recht auf die erste Nacht zu pochen. Regelmäßig sei nach Trauung und Hochzeitsmahl die Kutsche des Grafen vorgefahren, um die Braut abzuholen, um dann Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen.

Das habe Bewohner des Castello auf Dauer so erzürnt, dass sie unter der Führung eines Mannes namens Cecco di Tocco gegen den Conte rebelliert, seinen Palast gestürmt, dem Grafen den Kopf abgeschlagen und in den Brunnen von Nidastore geworfen hätten.

Bei seiner Untersuchung des Mordes habe dann jedoch der Bischof von Fossombrone die Männer von Nidastore nicht verurteilt. Im Gegenteil: Er habe ihnen sogar den Besitz des Grafen zugesprochen – einerseits als Kompensation für die erlittenen »Schäden«, andererseits gewissermaßen in natürlicher Rechtsnachfolge, denn einige der jüngen Nidastorer seien ja Söhne des Conte…

Historische Belege für die Geschichte gibt es leider keine. Sie bietet aber eine Antwort auf eine Frage, die man sich nicht nur in Nidastore, sondern auch in den anderen acht Castelli von Arcevia mit Recht gestellt haben mag: Wie kommt es, dass Bauern in einer Burg wohnen?

In den Marken, die über Jahrhunderte zum Kirchenstaat gehörten, könnte bei der Story, bei der neben den Burg-Bauern vor allem der Bischof gut wegkommt, auch eine politische Komponente eine Rolle spielen: Die Erzählung illustriert, warum man es als Untertan des Kirchenstaats am Ende doch besser hat, als wenn man den Gelüsten weltlicher adeliger Herrn ausgesetzt ist.

Markus Springer