Recanati

Leopardi, L’infinito und Lionel Messi

»Sempre caro mi fu quest’ermo colle, /
E questa siepe, che da tanta parte /
Dell’ultimo orizzonte il guardo esclude« …

Das sind die ersten Zeilen eines der bekanntesten Gedichte in italienischer Sprache. Sie stammen von Giacomo Leopardi, der 1798 in Recanati, 50 Kilometer südöstlich von Arcevia, in den Marken geboren wurde. Er starb in Neapel, mit nicht mal 39 Jahren.

»L’infinito« – Unendlichkeit – heißt das berühmte Gedicht (nach dem auch das empfehlenswerte Restaurant in Serra de’Conti benannt ist), und es geht so:

»Stets war lieb mir dieser einsame Hügel
und diese Hecke, die zum größeren Teile
dem Blick den fernsten Horizont entzieht.
Doch wenn ich sitze und schaue: Grenzenlose
Räume jenseits von ihr und Menschenmaß
übersteigendes Schweigen und tiefste Ruhe
stell ich im Stillen mir vor, wo dann beinahe
Angst das Herz überkommt. Und wie ich den Wind
rauschen höre in diesen Büschen, vergleich ich
jene unendliche Stille mit dieser Stimme,
und in den Sinn kommen mir die Ewigkeit
und die vergangenen Zeiten und die lebendige
Gegenwart und ihr Klang. Und so, in dieser
Unermesslichkeit, ertrinkt mein Denken,
und süß ist mir, Schiffbruch zu leiden in diesem Meere.«

Den von Leopardi besungenen Hügel – »quest’ermo colle« – gibt es wirklich. Recanati ist eine dieser typischen »Balkonstädte« der Marken, auf dem Rücken eines Hügels gelegen wie Arcevia und andere schöne Orte in den Marken. Wer in Recanati auf Leopardis Hügel steht, mit dem Blick auf den Conero bei Ancona, auf das Meer und die »colline marchigiane«, die typische Hügellandschaft der Marken, der versteht, wie in dieser Gegend der Welt das Kleine, Alltägliche und das Überzeitlich-Ewige auf herzbewegende Weise zusammenkommen oder jedenfalls zusammenkommen können, wenn man sich dafür öffnet.

Giacomo Leopardi war gerade mal 20 oder 21 Jahre alt, als er 1819 »L’infinito« schrieb. Sein Leben ist eher tragisch verlaufen. Dabei gilt er heute als Erneuerer der italienischen Sprache. Mit der deutschen Philosophie konnte er zwar eher wenig anfangen, Friedrich Nietzsche adelte ihn trotzdem mit diesen Worten:

»Ich ertrage ohnehin nur noch Poeten, die auch Denker sind wie Leopardi.«

Leopardi war klein, bucklig, unansehnlich, er litt an Knochentuberkulose, was man zu seiner Zeit nicht diagnostizieren konnte. Nicht weniger litt er unter seinem rigiden, strengen Vater, er hatte wenig Glück bei den Frauen. In aufschlussreicher Weise ist sein Leben mit der Geschichte seiner Heimatregion verbunden: Leopardi stammte aus einer der ältesten Adelsfamilien in den Marken; Stammsitz der Familie war seit dem 13. Jahrhundert der Palazzo Leopardi in Recanati. Und die Marken waren eigentlich immer Teil des Kirchenstaats, wo – spätestens seit der Zeit der Gegenreformation – ein intellektuelles Klima herrschte, das für freie Geister, Suchende und Wissenschaftler nicht gerade Rückenwind bereithielt. Die Sache mit dem »Index librorum prohibitorum«, der Liste der vom Vatikan verbotenen Bücher, nahm man hier sehr ernst.

Leopardi war ein Hochbegabter, der überall auf Mauern stieß. Einer seiner Biografen hat von einem »strangulierten Leben«, einer »vita strozzata«, gesprochen. Latein, Französisch und Spanisch konnte er schnell, dazu brachte er sich noch als Jugendlicher mit den Büchern aus der umfangreichen Bibliothek seines Vaters autodidaktisch Griechisch, Hebräisch und Englisch bei. Er verfasste eine »Storia dell’astronomia« (Geschichte der Astronomie). Irgendwann ließ man den talentierten jungen Mann dann doch sogar an Bücher, die auf dem römischen Index standen.

Man hat gesagt, was Goethe für die deutsche Literatur bedeutet, entspreche in etwa dem Rang, den Leopardi in der neuzeitlichen italienischen Literatur einnimmt. Auch inhaltlich – vom Werther zum Faust beim einen, von den frühen »Idilli« zu den tiefgründigen »Operette morali« beim anderen – hat man ihre Entwicklung verglichen.

Jedes Schulkind in Italien kennt Giacomo Leopardi, die meisten Italiener können ein Gedicht oder wenigstens ein paar Verse von ihm auswendig. Auch von Goethe haben die meisten Italiener gehört – doch umgekehrt können nicht viele Deutsche mit Giacomo Leopardi etwas anfangen.

Bei Lionel »Leo« Messi dürfte es anders aussehen, was seine Bekanntheit angeht. Viele seiner zahllosen Fans auf der ganzen Welt halten ihn für den größten Fußballer aller Zeiten. Dass der gebürtige Argentinier bei Europawahlen – wie zuletzt im Mai 2019 – Post mit Wahlunterlagen aus Recanati bekommt, wissen die wenigsten. Denn Lionel Messi ist auch Italiener, was ihm das Leben als Angestellter eines europäischen Fußballvereins leichter macht – und er ist in Recanati gemeldet.

Was steckt dahinter? Eingefädelt hat die Sache Messis Vater Jorge, der 2004 erstmals in den Marken war – als Familienforscher. »Oriundo« nennen Italiener (aber auch Spanier und Portugiesen) einen, dessen Vorfahren aus Italien kommen (oder eben aus Spanien oder Portugal). Und die Messi sind »oriundi« aus Recanati. Leo Messis Ur-Urgroßvater Angelo wanderte 1866 von dort nach Buenos Aires aus. Knapp drei Millionen Italiener folgten ihm. Fast die Hälfte aller Argentinier heute, schätzt man, hat italienische Vorfahren.

Auswanderung hat die Geschichte Italiens geprägt, auch die der Marken. Aus Arcevia und der Umgegend beispielsweise gingen in den 50er-Jahren viele Menschen nach Belgien, um dort in den Bergwerken Arbeit zu finden. Eine Rolle spielt dabei auch die Tradition des Schwefelbergbaus in Cabernardi, wenige Kilometer westlich von Arcevia. Viele der einst dicht bevölkerten Dörfer und Castelli verödeten durch Auswanderung und Landflucht. Hatte Arcevia 1950 noch rund 15.000 Einwohner, sind es heute noch 5000. In Recanati erinnert sogar ein eigenes Museum an die Emigranten: Im »Museo dell’emigrazione marchigiana« (Villa Colloredo Mels, Via Gregorio XII) wird auch die Geschichte der Familie Messi gezeigt.

Es gibt noch einen brasilianischen Bischof namens João Maria Messi, 1934 in Recanati geboren, ebenfalls ein Kind von Auswanderern. Bis heute ist Messi in Recanati ein sehr verbreiteter Nachname.

Der prominenteste echt Recanateser Messi dürfte Leandro Messi sein, ein entfernter Cousin des Fußballstars. Der junge Mann ist 1986 geboren und damit ein Jahr älter als sein berühmter Verwandter. Eigentlich ist er gelernter Buchhalter. Doch schon seit 20 Jahren baut er mit minutiöser Sorgfalt an einem Krippenwunderwerk, das jedes Jahr in der Weihnachtszeit zu sehen ist (2019: Viale del Passero Solitario, 30). Das besondere an seinen unglaublich detailreichen Krippenlandschaften: Sie sind »meccatronico-olfattivo« – es bewegen sich also nicht nur die meisten Figuren, die Krippe wartet sogar mit Geruchseffekten auf.

Messi hat längst umgesattelt auf Möbel- und Kunsthandwerk. An seiner mehrfach prämierten Krippe mit ihren wunderbaren Szenen und Hunderten beweglicher Figuren arbeitet er das ganze Jahr über arbeitet nach dem Brotberuf. Bereits Ende August beginnt der Aufbau.

Leandros entfernter Cousin Leo ist seit 2010 (auch) Italiener, aber dem Fußballstar ist die Sache mit Recanati – abgesehen von den arbeitsrechtlichen Vorteilen – eher wurscht. In einem Interview, das er vor einigen Jahren dem Magazin des Corriere della Sera gab, bekannte Messi, er habe nur sehr vages Wissen über seine italienische Herkunft. In Recanati sei er nie gewesen. Und Giacomo Leopardi samt seinem »einsamen Hügel« sage ihm gar nichts.

Markus Springer