San Martino

Kirche, Konvent, Kuhstall

Die Casa San Martino war ursprünglich eine Fattoria, eine Landwirtschaft, die zum gleichnamigen Kloster etwas unterhalb des Hauses gehörte. Der Steinbogen im großen »Saal« in der Casa storica erinnert daran, dass hier einst der Stall war. Die Kirche des ehemaligen Convento San Martino, zu dem der Bauernhof gehörte, stammt aus dem 16. Jahrhundert. Sie wurde an Stelle einer älteren Kirche am gleichen Ort errichtet, über die man leider so gut wie nichts weiß.

Der Besitz auf dem Hügel oberhalb des Weilers Conce ging damals vom Laterankapitel in Rom an die Franziskaner der »strikten Observanz«. Die »Observanten« waren eine Reformgruppe innerhalb der franziskanischen Bewegung, die seit dem 15. Jahrhundert großen Zulauf hatte. Sie wurde sogar bald zur Mehrheit in der zersplitterten Ordenswelt, die sich auf Franz von Assisi beruft, und durfte sich offiziell »Minderbrüder – fratres minores« nennen. (OFM; mehr über Franziskus und das von Arcevia gut erreichbare Assisi gibt es hier.)

Die Bewegung blühte auf in der Zeit der Vorreformation. Es gärte im Volk, und die Observanten waren schon deshalb für die einfache Bevölkerung glaubwürdig und sympathisch, weil sie die Rückkehr zu strengerer Beachtung (deswegen »Observanz«) der ursprünglichen Ordensregel des Franziskus nicht nur predigten, sondern auch lebten. Sie waren wirklich arm, sie gingen in kleinen Gemeinschaften hinaus aus den Städten aufs Land oder lebten in Einsiedeleien (Eremi) und prangerten als Wanderprediger die sozialen Missstände ihrer Zeit an.

Am Beispiel San Martino lässt sich das in Arcevia anschaulich nachvollziehen: Oben in der Stadt, die damals noch Rocca Contrada hieß, befindet sich ein im 13. Jahrhundert gegründetes Franziskanerkloster. Es beherbergt heute als »Centro Culturale San Francesco« die Tourismusinformation, das Stadtarchiv, die Stadtbibliothek und eine Kunstsammlung. Die später überbaute Gasse, an der es liegt, soll der mittelalterliche Rotlichtbezirk gewesen sein, erzählt man sich.

Wie dem auch gewesen sein mag: Die Observanten verließen damals jedenfalls die Stadt und deren sündiges Getriebe und ließen sich auf dem Hügel von San Martino nieder.

Man erzählt sich außerdem in Arcevia, die Brüder hätten an dem entlegenen Ort begonnen, heimlich auch als Buben verkleidete Mädchen zu unterrichten, was natürlich verboten gewesen sei. Als der Bischof visitierte, seien ihm die seltsamen »Knaben« aufgefallen. Die zur Rede gestellten Mönche wichen aus. Der Bischof ließ es gut sein, bemerkte aber: »Ich bin übrigens nicht blöd.«

Die Geschichte hat einen oder vielmehr zwei wahre Kerne: Zum einen diente das Konvent tatsächlich bis in die 1960er-Jahre als Schulgebäude. Viele Ältere aus Le Conce oder Arcevia sind selbst dort zur Schule gegangen.

Zum anderen war Schulunterricht tatsächlich lange nur Knaben vorbehalten. Bildung für Mädchen – meist aus adeligen oder reichen Familien – gab es bis ins späte Mittelalter nur im Kloster.

Zum Revolutionären der Reformation nördlich der Alpen gehörte ihr Bildungsprogramm – einschließlich der Forderung nach einer allgemeinen Schulpflicht für Jungen und Mädchen. Martin Luthers Appell in seiner Schrift 1524 »An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen«, waren in der Folge die protestantischen Fürsten fast überall gefolgt.

In den katholisch gebliebenen Ländern und im Zuge der Gegenreformation reagierte man Ende des 16. Jahrhunderts mit der Gründung von Frauenorden wie den Ursulinen, den Katharinerinnen oder den Englischen Fräulein, die sich um die Bildung von Mädchen kümmerten.

Irgendwann zogen die Mönche aus, der Kloster wurde zu einem Frauenkloster. Wahrscheinlich zogen Ursulinen ein, Schwestern eines der Mädchenbildung gewidmeten Ordens, deren Gründerin Angela Merici aus einem Dritten Orden der franziskanischen Bewegung kam. Auch nachdem die Nonnen das Kloster aufgaben, erhielt sich die Schultradition bis in die 1960er-Jahre.

Um die Kirche zu besichtigen, muss man sich von Nachbarn im Convento aufsperren lassen. Signora Peppa Casagrande hat den Schlüssel.

Die Kirche selbst ist baulich in den Klosterkomplex eingefügt, in dem sich einst die Zellen der Ordensbrüder befanden. Heute befinden sich darin mehrere Privatwohnungen. Die Gebäude sind aus einheimischem Kalkstein errichtet, mit Passagen aus günstigeren Materialien wie Ziegelsteinen. Die Fassade ist in drei horizontale und ebenso viele vertikale Segmente unterteilt, die den drei Schiffen der Kirche entsprechen. Bänder und Pilaster aus Backstein unterstreichen diese Unterteilungen. Der untere Teil wird von den drei backsteingerahmten Portalen bestimmt. Die zentrale Fläche wird von einem rechteckigen Fenster in der Mitte beherrscht; die Seitenschiffe sind durch geschwungene Flügel mit Backsteinrahmen abgeschlossen. Ganz oben thront ein Tympanon mit einem Terrakottarahmen.

Der dreischiffige Innenraum ist mit Säulen und Wandpfeilern mit toskanischen Kapitellen strukturiert. Diese enden unter dem Gesims, von dem die die Gewölbe tragenden Bögen ausgehen. Das Mittelschiff endet in der gerundeten Apsis, wo ein kostbarer Marmoraltar dominiert. An der Rückwand steht ein Altarbild von Ercole Ramazzani (1530-1598), einem Schüler von Lorenzo Lotto. Das Bild zeigt die Jungfrau Maria, darunter ganz rechts den Patron der Kirche, den Heiligen Martin von Tours, sowie (nach links) die Heiligen Franziskus, Bonaventura und Hieronymus. In den Seitenschiffen befinden sich jeweils zwei weitere Altäre.

Die schöne Barockorgel, die in der Kirche eingebaut war, befindet sich heute in der Kirche San Giovanni Battista fuori le mura oberhalb von Conce am Fuß der Stadt. Auch diese Kirche geht ursprünglich auf observante Franziskaner und das 16. Jahrhundert zurück.

Markus Springer