Lutherkopf im Kirchenstaat
Sechs Meter über dem Boden lacht ein Lutherkopf von der Fassade einer katholischen Kirche in den Marken. Dabei gehörte die Region jahrhundertelang zum Kirchenstaat. Was ist da los?
Ein merkwürdiger Kopf ist es, der da an einer Ecke der Augustinerkirche von Corridonia außen aus der Wand ragt, hinten in der Nähe der Apsis. Wer in dem Städtchen nichtsahnend durch die enge Via Giuseppe Procaccini schlendert, übersieht den von einer rechteckigen Platte gekrönten kleinen Marmorschädel.
Zu den geschätzten und gepflegten Traditionen der kleinen Stadt in den Marken gehörte es aber jahrhundertelang, dass Kinder sich über den Kopf lustig machten. Erwachsene Passanten verfluchten den Kopf, wenn sie vorbeigingen, oder schlugen das Kreuzzeichen. Man glaubte, es handle sich um ein Abbild des deutschen Erzketzers und Reformators Martin Luther.
Tatsächlich berichtete der italienische Historiker Pier Paolo Bartolazzi (1824-1888) im 19. Jahrhundert von einem Verzeichnis in der Kirche gelesener Messen – mit eigenhändiger Unterschrift Martin Luthers! Das Messregister ist leider verlorengegangen oder, wie manche vermuten, Beute eines skrupellosen Sammlers geworden. So lässt sich nicht überprüfen, ob etwas dran ist, was Bartolazzi da behauptet. Zweifel gab es immer.
Es wäre in jedem Fall eine Sensation. Bis heute weiß man nicht, auf welchem Weg genau Martin Luther 1510 oder wahrscheinlicher 1511 nach Rom reiste. Am Wahrscheinlichsten gilt bisher, dass der Augustinermönch und Reformator in spe den Apennin nördlich von Florenz über den Passo del Giogo querte. Sicher ist jedoch, dass Martin Luther und sein Reisebegleiter (Johannes Nathin oder Jan van Mechelen) im Netzwerk der Augustinerklöster Quartier machten.
Und noch eines steht hundertprozentig fest – egal, ob Luther die Messe gelesen hat in der Augustinerkirche mit dem Kopf oder nicht: In Corridonia war er nie. So heißt die Stadt nämlich erst seit 1931, und wer ein wenig die Zahlen im Kopf hat, weiß, dass die Umtaufe sich daher in der Zeit des Faschismus ereignet haben muss.
Benannt ist die Stadt nach einem hier geborenen Spezi des Diktators Benito Mussolini: Filippo Corridoni. 1887 geboren, war er vier Jahre jünger als Mussolini. Mit 28 starb er 1915 einen ziemlich sinnlosen Heldentod an der »Karstfront« des Ersten Weltkriegs in der Nähe von Görz.
»Liebster, in wenigen Augenblicken geht es los an die Front. Viva l’Italia! In dir küsse ich alle Brüder der Schlachten von gestern und hoffe dabei auf die Zukunft!«
Mit diesen Worten hatte Corridoni sich vom späteren Duce in den heiß ersehnten Krieg gegen den Vielvölkerstaat Österreich verabschiedet. Mussolini und Corridoni waren beide frühe »nationale Sozialisten«, die als marxistische Sozialrevolutionäre starteten und sich zu glühenden Nationalisten wandelten. Beide brannten dafür, die italienische Republik durch die Eroberung »unerlöster Gebiete« bis zum Brenner, bis Triest und Istrien zu erweitern.
Luther war also bestimmt nicht in Corridonia, aber er war auch nicht in Pausula, wie die Stadt zuvor geheißen hatte. Diesen Namen trug sie nämlich erst seit 1851 – benannt nach der antiken römischen Stadt Pausulae, von der man bis heute nicht genau weiß, wo genau in der Gegend von Macerata sie lag. Aber damals meinte man sie gefunden zu haben. Der Vatikan segnete den edlen Namen ab; Bartolazzi, der nicht nur Historiker war, sondern im Hauptberuf Priester in dem nunmehr zur Stadt erhobenen Ort, war mittendrin in alldem.
Wenn Martin Luther hier war, dann in Ulmenberg, Mont’Olmo. So hieß der Ort seit seiner Gründung im Mittelalter, angeblich nach einer alten Ulme auf dem höchsten Punkt der Siedlung. 1831 soll der Baum eingegangen sein. Aber Zweifel sind erlaubt, ob es sich um die namengebende Ulme oder auch nur jene handelte, unter der Luther gesessen haben könnte: Ulmen werden selten älter als 400 Jahre – auch ganz ohne das Ulmensterben, das die Ulmen seit Anfang des 20. Jahrhunderts an den Rand des Aussterbens gebracht hat.
Luther hatte in den ersten Jahren der Reformation – etwa bis 1542 – überall in Italien viele Anhänger. Ihre jeweilige Motivation, warum sie es mit dem neuen Glauben hielten, war höchst unterschiedlich.
Historisch bezeugt ist, dass die Gegend um Mont’Olmo und Macerata besonders »lutherisch« war. Oder jedenfalls von allem begeistert war, was sich gegen den Papst richtete. Der Konflikt zwischen Welfen und Staufern, die in Italien Guelfi und Ghibellini heißen, sind so etwas wie ein unscharfer Sammelbegriff für diesen Machtkampf in Oberitalien. Was den Städten in der Toskana, der Lombardei und der Romagna – von Florenz bis Ferrara – gelang, reich und vor allem unabhängig von Papst und Kaiser zu werden, das versuchten auch die größeren Städte und Geschlechter in Marken – nur mit weniger Erfolg. Auch Arcevia mit seinen Castelli ist dafür in gewisser Weise Zeuge.
Das Jahr 1532 markiert die Zäsur: Durch päpstliche List und Tücke verlor die einstige Rivalin Venedigs im östlichen Mittelmeer, die stolze Seerepublik Ancona, endgültig ihre Unabhängigkeit. Sie wurde Teil des Kirchenstaats. Dessen Herrscher war Papst Clemens VII. (1478-1534), ein unehelicher Spross aus der mächtigen Florentiner Familie der Medici. Er wusste, wie das Renaissance-Spiel um Macht und Territorien zu spielen war. Und er war beim »Sacco di Roma«, der Plünderung Roms durch kaiserliche Landsknechte (von denen es viele mit der lutherischen Sache hielten) höchstpersönlich in Gefangenschaft geraten.
Auch sein Nachfolger Paul III. aus dem Adelsgeschlecht der Farnese spielte das Machtspiel geschickt: Als in der Herrscherfamilie des Herzogtums Camerino ein männlicher Erbe ausblieb, fiel auch dieses Gebiet an den Kirchenstaat. 1631 schließlich, als die einst mächtige Dynastie della Rovere ausstarb, fiel auch das prächtige Herzogtum Urbino an den Papst.
Mit allen Luthereien war es in den Marken endgültig vorbei. Und in Mont’Olmo fing man an, den Lutherkopf an der Augustinerkirche zu verfluchen.
Ein kleines Argument gibt es vielleicht doch noch, das die These von der Anwesenheit Luthers dort unterstützt: Der Ort liegt an der Via Lauretana, einem uralten Pilgerweg von Loreto über Assisi nach Rom (oder umgekehrt).
In Loreto soll sich seit dem 10. Dezember 1294 die »Santa Casa«, das Geburtshaus der heiligen Maria befinden. Einer spätmittelalterlichen Chronik zufolge ist es damals auf wundersame Weise von Trsat, einer Anhöhe oberhalb der istrischen Hafenstadt Rijeka, über die Adria geflogen. Das Haus und die Engel, die es durch die Luft trugen, hatten dort für drei Jahre durchgeschnauft auf der anstrengenden Flugreise von Nazareth her.
Es handelt sich bei dem inzwischen von einer Wallfahrtskirche umbauten Haus vielleicht tatsächlich um eines aus dem Geburtsland Jesu. Es gibt Dokumente über eine Schenkung »heiliger Steine« aus dem »Haus Unserer Lieben Frau« im Jahr 1294 und über eine byzantinische Adelsfamilie Angeloi (Engel), die die Steine aus dem Heiligen Land hergebracht habe – aber per Schiff. Außerdem haben Archäologen in den Steinen griechische und aramäische Graffiti identifiziert, aber keine lateinischen.
Loreto und die Stadt des Franziskus, Assisi, könnten für christliche Rompilger aus deutschen Landen jedenfalls einen kleinen Umweg wert gewesen sein. Sicher jedoch nicht den sinnlosen Umweg weiter südlich nach Grottammare an der Küste: Dort erzählt man sich, die örtliche Augustinerkirche habe deshalb einen so merkwürdig abgesägten Kirchturm ohne Spitze, weil dieser als Buße abgetragen werden musste, weil man hier ebenfalls den Ketzer Luther beherbergt habe.
Damit zurück nach Mont’Olmo oder Pausula oder Corridonia: Dort gibt es noch eine weitere Stadtlegende zu dem Kopf in der Kirchenwand. Demnach soll es sich nicht um den Ketzer Martin Luther, sondern um den Ketzer Mohammed handeln. Die Reaktionen (Verfluchen, Kreuzzeichen, Verspotten) sind die gleichen.
Martin Luthers Angsterregungspotenzial in Italien dürfte in den letzten Jahrzehnten gesunken sein, das des Propheten Mohammed eher gestiegen. Aber falsch sind vermutlich beide Legenden von Mont’Olmo.
Markus Springer